Naturwaldflächen in den stadteigenen Wäldern

Eiche in einem Tieflandurwald in Ostpolen
Eiche in einem Tieflandurwald in Ostpolen

Warum brauchen wir Waldflächen ohne forstliche Eingriffe?

Wälder sind im Grundsatz Lebensgemeinschaften, die menschliche Nutzung und Pflege nicht benötigen. Wir brauchen den Wald, aber der Wald braucht uns nicht. Wälder ohne forstliche Eingriffe können wachsen, werden, vergehen und wieder neu wachsen, wie es den Gesetzen der Natur entspricht.

Naturschutz bedeutet nicht nur die Erhaltung von wildlebenden Pflanzen- und Tierarten und von Einzelobjekten der Natur. Es bedeutet ganz besonders auch, natürliche Prozesse zuzulassen und der eigengesetzlichen Entwicklung von Ökosystemen wieder Raum zu geben. Ein so verstandener Naturschutz ist gerade im Wald machbar und gerade hier auch nötig.

Ein soweit wie möglich naturnaher Wald kann sich nur in Waldflächen ohne forstliche Eingriffe entwickeln. Dies gilt auch für ökologisch orientierte Waldbewirtschaftungsformen. Grundsätzlich wirkt jede Holzentnahme als nachhaltiger Eingriff in das Waldökosystem. Das durchschnittliche Bestandesalter, ein ganz wesentliches Naturnähemerkmal, wird durch die Entnahme älterer Bäume künstlich gesenkt. Auch die Holzvorräte, insbesondere bei Alt- und Totholz, sind in einem bewirtschafteten Wald im Vergleich zum Naturwald geringer. Dies beeinträchtigt auch die lebensraumtypische Artenvielfalt, denn vielen auf Alt- und Totholz angewiesenen Arten genügt nicht allen das bloße Vorkommen solcher Strukturen, sondern sie sind darüber hinaus auf ein quantitativ sehr reiches und qualitativ vielfältiges Alt- und Totholzangebot angewiesen. Das entnommene Holz fehlt zudem den Waldböden, die im Naturwald durch sich zersetzendes Holz geprägt sind. Eine nicht vermeidbare Beeinträchtigung der Naturnähe stellt im bewirtschafteten Wald schließlich die Erschließung der Bestände durch Fahrwege und Rückegassen, das Befahren der Bestände und die sonstigen Störungen durch regelmäßige Durchforstungen und Einzelstammnutzungen dar.

Waldflächen ohne forstliche Eingriffe haben auch für die Forstwirtschaft eine wichtige Funktion. Sie sind gewissermaßen Lernflächen, an denen abgelesen werden kann, in welche Richtung sich die natürliche Waldentwicklung bewegt. Eine naturschonende und effektive Waldbewirtschaftung, die mit der Natur statt gegen die Natur arbeitet, kann sich an diesen Flächen orientieren. Vor allem aus diesem Grunde verlangen die Zertifizierungs-Richtlinien für naturverträglichen Waldbau von FSC und Naturland die Ausweisung solcher "Referenzflächen".

Für die Waldbesucher bieten Waldflächen ohne Holznutzung besondere Möglichkeiten zum Naturerleben. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger erkennen den Eigenwert des vom Menschen nicht direkt gelenkten Naturgeschehens. Der Wald ist kein Park und zum Naturerleben im Wald gehört auch das Akzeptieren und das Wertschätzen des Ungebändigten, Ungezähmten und auch Unvorhersagbaren im Naturgeschehen. Zumindest in Teilen des Waldes sollte es möglich sein, eine solche natürliche Waldentwicklung zu erleben.

Nicht zuletzt ist die Ausweisung von Waldflächen ohne forstliche Nutzung auch eine Frage der Glaubwürdigkeit nach innen und nach außen. Wir verlangen auf der einen Seite mit Recht, die noch verbliebenen tropischen Primärwälder (Urwälder) als Erbe der Menschheit zu erhalten und in diesen Wäldern keinen Holzeinschlag für den Export von Tropenhölzern mehr zuzulassen. Diese Position wäre aber nicht sehr überzeugend, wenn auf der anderen Seite die Bereitschaft fehlt, auch nennenswerte Teile der mitteleuropäischen Wälder in einem so weitgehend wie möglich naturnahen Zustand für die Nachwelt zu sichern.

Verbannung der Säge auf zehn Prozent der Fläche gefordert

Schon seit 1990 hatte die BUND-Kreisgruppe zusammen mit dem Hannoverschen Vogelschutzverein gefordert, zehn Prozent der stadteigenen Waldflächen von allen forstlichen Eingriffen auszunehmen.

Aber muss in einem Wald wie der Eilenriede überhaupt großflächig forstwirtschaftliche Nutzung stattfinden? Im Bewusstsein der hannoverschen Bürgerinnen und Bürger ist der Stadtwald schließlich in erster Linie ein Ort für Naturerleben und Erholung und, wenn überhaupt, nur an letzter Stelle eine Produktionsstätte für Holz.

Konsolenpilze auf Totholz, Foto Sibylle Maurer-Wohlatz

Die Frage ist berechtigt und in der Tat ist es prinzipiell die Position der BUND-Kreisgruppe, dass in den stadteigenen hannoverschen Wäldern eine Holznutzung nur da stattfinden müsste, wo sie aus Gründen der Erholungsnutzung und wegen spezieller Naturschutzziele notwendig ist. Das wären vor allem Flächen entlang der Wege, die ja aus Gründen der Verkehrssicherungspflicht nicht sich selbst überlassen werden können, außerdem halbnatürliche, schutzwürdige Waldtypen wie alte Eichenwälder auf Standorten, wo die Eiche gegen die überlegene Buche verteidigt werden sollte und schließlich naturfremde Forsten, die in naturnähere Wälder umgewandelt werden sollen. Ansonsten könnten die Waldflächen der eigenen, natürlichen Entwicklung überlassen werden.

Leider besteht in Niedersachsen aber nach dem Waldgesetz die Verpflichtung, zumindest den größten Teil jedes Waldes zu bewirtschaften, um den Holzmarkt zu beliefern. Anders als z.B. in Nordrhein-Westfalen, wo Wälder zu Erholungswäldern ausgewiesen werden können, dürfen sich die Eingriffe in den Wald nicht darauf beschränken, die Wege zu sichern und einen für Erholung und Naturschutz wertvollen Zustand zu erhalten. Wie absurd dieser Zwang zur Holzproduktion sein kann, auch wenn er noch so unwirtschaftlich ist, wird gerade an den hannoverschen Stadtwäldern deutlich, wo die Einnahmen aus Holzverkäufen nur rund 3 Prozent der Kosten für die Waldbewirtschaftung decken (Haushaltsansatz 2009).

Ein Anteil von zehn Prozent Waldfläche ohne Holznutzung ist unter den Bedingungen der stadteigenen hannoverschen Wälder als Kompromiss zu verstehen. Dieser Anteil ist für die deutschen Wälder vielfach von Naturschutzseite gefordert worden, unter anderem von den Bundesorganisationen der großen deutschen Umweltschutzverbände, neben dem BUND auch von NABU, Greenpeace, Robin Wood und WWF sowie der Dachorganisation deutscher Naturschutzverbände, dem Deutsche Naturschutzring. Der Öko-Zertifizierer Naturland hat diesen Bezugswert in die Zertifizierungs-Richtlinien zur ökologischen Waldnutzung aufgenommen.

Der lange Weg zu den Naturwaldflächen

Aus diesen Gründen versuchte die BUND-Kreisgruppe seit etwa 1990 die Verwaltung davon zu überzeugen, geeignete Flächen mit alten Baumbeständen ganz aus der Holznutzung zu nehmen. Anfang 1993 wollte Umweltdezernent Hans Mönninghoff dann einen Schlussstrich unter die Diskussion ziehen und fällte eine Entscheidung: Eine einzige sogenannte „Altholzparzelle" sollte ausgewiesen werden, und zwar in der nördlichen Eilenriede.

Dies war für uns nicht viel mehr als ein erster Schritt. Deshalb stellten wir im Sommer 1993 zusammen mit dem Hannoverschen Vogelschutzverein (HVV) unser Konzept "Mehr Natur im Stadtwald" vor. Ein wichtiger Teil dieser Arbeit war der Entwurf eines Systems von Altholzparzellen, die zusammen etwa ein Zehntel der Stadtwaldfläche ausmachen sollten. Es handelte sich um naturnahe Bestände, die mindestens eine Baumlänge vom nächsten Weg entfernt lagen, so dass kein Problem mit der Verkehrssicherungspflicht und keine Einschränkung der Erholungsnutzung entstehen würde. Nach zahlreichen Orts- oder Gesprächsterminen mit verschiedenen Behörden und Gremien, Vorträgen, Briefen, Presseerklärungen, öffentlichen Führungen und einer Anhörung im Umweltausschuss beschloss die rot-grüne Ratmehrheit auf Initiative der Grünen, dass die Stadtverwaltung einen Plan zur Ausweisung von Altholzparzellen vorlegen sollte.

Das Konzept, das die Verwaltung daraufhin entwarf und für das der Umweltdezernent in der folgenden Zeit sehr engagiert warb, sah die Ausweisung von sieben Altholzparzellen auf insgesamt 40 Hektar Fläche vor. Was die Flächengröße betraf, war der Plan in unseren Augen eher halbherzig, zumal in den Bereichen entlang der Wege weiterhin Bäume gefällt werden sollten.

Ideologisch verbohrte Verbände?

Der Streit, der sich dann vor unseren Augen abspielte, hätte mit seinen zahlreichen Wendungen, Intrigen, Winkelzügen und vor allem mit seinen unendlich vielen Folgen eine Vorlage für eine Seifenoper abgeben können. Unterhaltsam konnten wir ihn allerdings nicht finden. Von der Mehrzahl der Fraktionen wurde das Konzept nicht einmal ansatzweise sachlich diskutiert und schon gar nicht als Chance gesehen, neue Wege einzuschlagen und ein Beispiel für andere Städte zu geben. Stattdessen wurden die Altholzparzellen als bloße Munition für die üblichen politischen Grabenkämpfe begriffen. CDU, FDP und WfH, aber auch einzelne Behördenvertreter, malten ein Schreckensgemälde an die Wand, wonach die Eilenriede in Zukunft ganz oder teilweise eingezäunt würde. An unsere Adresse gerichtet äußerte die CDU gegenüber der Presse, es sei "beschämend, dass einige ideologisch verbohrte grüne Verbände im Zusammenspiel mit dem Umweltdezernenten" die Hannoveraner aus dem Wald aussperren wollen. Währenddessen war die SPD in dieser Frage uneins und konnte sich zu keiner Meinung durchringen. 

Liegendes Totholz, Foto Georg Wilhelm
Liegendes Totholz

Zwei Jahre wurde die Abstimmung immer wieder herausgezögert. Dann, im Dezember 1995, war es endlich so weit. Die Stadt wies vier neue "Altholzparzellen" sowie kleinere im Wald eingestreute „Altholzinseln" aus. Zusammen machten diese Altholzflächen knapp 40 Hektar der rund 1100 Hektar großen stadteigenen Wälder aus. In diesen Gebieten sollten in Zukunft, außer zur Verkehrssicherung an Wegen, keine Bäume mehr gefällt werden. Das Betreten wurde nicht verboten; Schilder wiesen aber darauf hin, dass hier auch einmal ein Ast herunterfallen kann.

Der dritte Anlauf

Damit war das Ziel von BUND und HVV, wonach auf einem Zehntel der Waldfläche die Säge tabu sein sollte, immer noch nur teilweise erreicht. Die nächste und für längere Zeit wohl vorerst letzte Chance war die neue Forsteinrichtung für das Jahrzehnt 2002 bis 2012. Eine Forsteinrichtung ist eine Betriebsplanung für einen Forstbetrieb, die alle zehn Jahre durchgeführt werden muss. Diese Forsteinrichtung stand unter für den Naturschutz besseren Vorzeichen als die vorangehende.

Zum einen konnte auf gute Erfahrungen mit den bestehenden Altholzflächen zurückgeblickt werden. Keines der Schreckensszenarien hatte sich bewahrheitet. Die Markierung der Flächen fiel im Wald nicht störend auf. Von nennenswerten Akzeptanzproblemen war nichts zu hören; im Gegenteil stießen diese Flächen bei Führungen regelmäßig auf großes Interesse und wurden sehr positiv beurteilt. Die Altholzparzellen und -inseln, von denen ein großer Teil zur „Endnutzung" vorgesehen war und die somit ohne die damalige Herausnahme aus der Nutzung gar nicht mehr vorhanden gewesen wären, gehörten schließlich auch zu den schönsten und eindrucksvollsten Beständen der Stadtwälder.

Optimistisch stimmte uns auch die von uns geforderte und von der rot-grünen Ratsmehrheit im Jahr 2000 beschlossene Waldzertifizierung. Der städtische Forstbetrieb sollte nach diesem Beschluss das weltweit anerkannte und von den Naturschutzverbänden unterstützte Umwelt-Gütesiegel "FSC" bzw. „Naturland" beantragen. Da der Naturland-Verband in seinen Richtlinien einen Verzicht auf Holznutzung auf zehn Prozent der Fläche des Forstbetriebs verlangt, meinten wir, damit praktisch schon am Ziel zu sein.

Widerstand kam diesmal von unerwarteter Seite. Der Umweltdezernent, der Jahre zuvor für einen gar nicht von ihm stammenden Plan zur Ausweisung von Altholzflächen heftige Kritik aushalten musste, erklärte gegenüber dem Naturland-Verband, dass zehn Prozent Wald ohne Holznutzung in Hannover „nicht möglich" sei. Naturland müsse hier für Hannover eine Ausnahme machen oder die Zertifizierung sei gestorben. Für uns war sehr enttäuschend, dass Naturland dem Druck sofort nachgab und in Aussicht stellte, auf diese Bedingung nicht zu bestehen.

Auch hier musste Hilfe bei der Politik gesucht werden. 2002 beschloss die rot-grüne Ratsmehrheit auf Initiative der Grünen, dass deutlich mehr Flächen aus der Holznutzung genommen werden sollen. Die Stadtverwaltung bot daraufhin, zusätzlich zu den schon bestehenden Altholzflächen, eine aus unserer Sicht wenig geeignete Fläche in der nördlichen Eilenriede an, die weder repräsentativ noch gering gestört noch für den Naturschutz und den Schutz von Altholzbeständen interessant war. Hier dominierten nach Kahlschlägen entstandene junge Altersklassenbestände und die Fläche wurde von vier Wegen durchschnitten. Trotzdem wurde diese Fläche von Naturland akzeptiert. Die Flächen ohne Holznutzung in den stadteigenen Wäldern hätten nach dem Vorschlag der Verwaltung einen Umfang von insgesamt knapp 60 Hektar und einen Anteil von nur 5,3 Prozent ausgemacht.

Unsere Meinung war, dass Hannover es nicht nötig habe, darum zu bitten, die Messlatte für die Eilenriede und die anderen hannoverschen Stadtwälder niedriger als anderswo anzulegen. Die Stadt könnte und sollte die Naturland-Richtlinie offensiv ausfüllen, statt Wege zu suchen, das Öko-Siegel verliehen zu bekommen, ohne dessen Inhalte im vollen Umfang umzusetzen. Deshalb sollten insgesamt rund 110 Hektar Waldflächen, also zehn Prozent der gesamten Waldfläche des Forstbetriebs, der natürlichen Entwicklung ohne forstliche Eingriffe überlassen. Dazu gehören auch die bereits ausgewiesenen Altholzparzellen und -inseln. Die zusätzlichen Flächen sollten vorrangig in den Bereichen gesucht werden, die landesweite Bedeutung für den Arten- und Ökosystemschutz haben. In den vorgeschlagenen Bereichen befanden sich auch relativ unzerschnittene Flächen, die repräsentativ hinsichtlich der im Stadtwald verbreiteten Waldgesellschaften (Buchenwälder, frische bis nasse Eichen-Hainbuchenwälder, auch Kiefernbestände) und hinsichtlich der Strukturen (alte, reich gestufte Bestände, aber auch jüngere Bestände) waren.

Im November 2003 fassten die Ratsgremien einen Beschluss in unserem Sinne. In der Eilenriede und der Seelhorst wurden daraufhin drei große zusammenhängende Flächen von zusammen rund 80 Hektar Größe als Naturwald ausgewiesen. Über zehn Prozent des Waldes kann sich jetzt nach seinen eigenen Gesetzen natürlich entwickeln. Erfreulich ist nicht nur das Ergebnis, sondern auch der Weg dorthin. Denn anders als ein Jahrzehnt davor war diese Einigung aus einer intensiven und meist sachlichen Diskussion zwischen allen politischen Parteien, der Verwaltung und den Naturschutzverbänden BUND und HVV entstanden. Dies lässt hoffen, dass das gewonnene Niveau des Umgangs mit der Natur im Wald auch Bestand hat.

Georg Wilhelm

Fotos: Georg Wilhelm, Sibylle Maurer-Wohlatz



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