Ödnis in der Grube oder Chance für die Natur?
Eintönige Baggerlöcher statt Naturinseln für Tiere und Pflanzen, skurrile Antragsunterlagen statt fachgerechter Planung: Der Bodenabbau in der Region Hannover ist ein Thema voller Überraschungen, Ärgernisse und verschenkter Chancen. Ein Umdenken bei der Genehmigung von Sand- und Kiesabbau in der Region ist überfällig.
Mehr als drei Tonnen Sand, Kies und Steine werden in Deutschland jedes Jahr pro Einwohner gefördert und verarbeitet. Deshalb ist in vielen Gebieten, auch in Teilen der Region Hannover, die Landschaft durch Abbaugebiete geprägt. Seit über zwei Jahrzehnten beschäftigt sich unsere Kreisgruppe intensiv mit Bodenabbauverfahren. Das Thema ist spannend, denn der Betrieb von Sand- und Kiesgruben hat aus Naturschutzsicht zwei ganz unterschiedliche Gesichter.
Zum einen reißt ein Bodenabbau immer eine „Wunde“ in die Landschaft. Alle gewachsenen Landschaftsformen, Böden und Lebensgemeinschaften an der Abbaustätte fallen den Baggern und Radladern zum Opfer. Der Abbaubetrieb und die Transporte verursachen Lärm, Staub und Abgase. Vor allem im Nassabbau entstehen außerdem Risiken für das Grundwasser.
Auf der anderen Seite kann Bodenabbau aber auch eine Chance für die Natur sein. In Sand- und Kiesgruben können sich seltene und gefährdete Pflanzenarten der trockenwarmen oder der feuchten Landlebensräume, der Uferzonen und der Wasserpflanzengesellschaften ansiedeln. Für viele Insektengruppen, unter anderem Wildbienen, Wespen, Heuschrecken, Schmetterlinge und Libellen, sind Bodenabbauflächen oft wichtige Lebensräume. Ebenfalls eine hohe Bedeutung können Sand- und Kiesgruben für Amphibien und Reptilien aufweisen; einzelne Arten wie die Kreuzkröte haben ihre Vorkommen sogar fast nur noch in Abgrabungen. Ausgesprochene „Baggergrubenfreunde“ gibt es auch unter den Vögeln; hierzu zählen etwa Flussregenpfeifer und Uferschwalbe.
Reichtum durch Armut
Diese Vielfalt hat ihre Gründe, denn in Abbaustätten können Verhältnisse herrschen, die in unserer Landschaft immer mehr fehlen. Ein Beispiel ist die Nährstoffarmut von Sandgruben und anderen Bodenabbauflächen. Mit der großflächigen Überversorgung mit Stickstoffdünger durch die Landwirtschaft kommen viele Pflanzen und Tiere nicht zurecht. Der Stickstoff ist zum „Erstick-Stoff“ für die Artenvielfalt geworden. Dagegen können Bodenabbauflächen, auf denen ja zunächst einmal nährstoffarme Verhältnisse herrschen, für lange Zeiträume als „Rettungsinseln“ für einen Teil der vielen Arten dienen, die ansonsten der Überdüngung unserer Landschaft zum Opfer fallen würden. Voraussetzung ist allerdings, dass der gewissermaßen durch Armut entstandene Reichtum nach Beendigung des Abbaus erhalten bleibt und nicht durch Abdeckung der Böschungen mit Mutterboden von aufgedüngten Äckern oder sogar durch Verfüllung der ganzen Grube zerstört wird.
Ein weiterer Pluspunkt von Sand- und Kiesgruben gegenüber der immer monotoner gewordenen Durchschnittslandschaft kann ihre Lebensraumvielfalt sein. Auf engem Raum wechseln bisweilen ebene Flächen und Steilwände, von der Sonne ausgedörrte und im Schatten liegende Hänge, extrem trockene und überschwemmte Böden, warme geschützte und windgepeitschte Stellen. Auf grundwassernahen Grubensohlen oder im Nassabbau können fischfreie Kleingewässer oder Gewässer mit ausgedehnten Flachwasserzonen entstehen, die für viele seltene und gefährdete Arten besonders wichtig sind.
Eine solche bunte Vielfalt, wie sie für alte, relativ ungeregelte Abbauflächen oft typisch war, ist allerdings immer weniger zu erwarten. In heutigen Bodenabbau-Anträgen in der Region Hannover verlaufen die Grubenränder möglichst eng entlang der Grundstücksränder und mit einer einheitlichen, maximalen Standardneigung, um kein Material übrig zu lassen. Raum für vielfältige Böschungen mit Ein- und Ausbuchtungen, mit wechselnder Breite und unterschiedlichem Gefälle ist nicht mehr da. Nassbaggerungen dringen meist bis in die größtmögliche Tiefe vor, in der Regel zwischen 10 und 20 Metern, doch bei solchen Gewässern erreicht kein Licht mehr den Gewässerboden, was die biologische Bedeutung sehr stark herabsetzt. Außer an der Stelle, wo von der Kies- oder Sandwäsche Schlamm in den See zurückgespült wird, ist für nennenswerte Flachwasserzonen oder gar Kleingewässer kein Platz. Es handelt sich schlicht um Löcher in der Landschaft, denen dauerhaft anzusehen ist, dass die „Gestaltungsidee“ eine maximale Ausbeutung des Grundstücks war. Die an sich großen Chancen für die Natur werden so auf ein Minimum gedrückt.
Keine Ausrede für Planungs-Freistil
Dazu kommen krasse handwerkliche Mängel bei nahezu allen Sand- und Kiesabbauanträgen der letzten beiden Jahrzehnte. Die Qualität der vorgeschriebenen Bestandsaufnahme von Flora und Fauna ist sehr unterschiedlich und es kommt zum Beispiel vor, dass ein Unternehmen vom Planungsbüro etwa verlangt, gefährdete Pflanzenarten im Januar zu erfassen. (Natürlich wurden die durchaus vorhandenen Rote-Liste-Arten dann im Hochwinter nicht gefunden.) Die Amphibienkartierung kann auch schon mal ausschließlich aus dem Hinweis bestehen, dass „einzelne Froschlurche“ gesehen wurden. (Es wurde also nicht einmal ermittelt, ob es Frösche oder Kröten waren, die über die Antragsfläche hüpften.) Schutzpflanzungen liegen verschiedentlich laut Text anderswo als laut Karte oder sind in den zeichnerischen Darstellungen sogar ganz verschwunden. Der - aus Naturschutzsicht abzulehnende - Auftrag von Mutterboden auf die Böschungen wird im Antragstext regelmäßig ausgeschlossen und ist ebenso regelmäßig in den Schnittzeichnungen doch vorgesehen. Zahlreiche unverzichtbare Inhalte der Anträge werden beharrlich weggelassen.
Allerspätestens seit 2003 gibt es für einen derartigen Planungs-Freistil keine Ausrede mehr, denn seinerzeit wurde von Landesbehörden und Wirtschaftsverbänden gemeinsam ein „Leitfaden“ und eine „Arbeitshilfe“ für den Bodenabbau erarbeitet und vom Niedersächsischen Umweltministerium per Runderlass zum Standard erklärt. In den beiden Papieren steht ausführlich, welche Angaben der Antragsteller vorlegen muss, nach welchen Methoden die Daten zu erheben sind und wie die Beeinträchtigungen vermieden, ausgeglichen oder ersetzt werden müssen. Die Zulassungsbehörde, bei Sand- und Kiesabbau in der Region Hannover ist das die Regionsverwaltung, hat laut „Leitfaden“ dem Antragsteller unverzüglich mitzuteilen, wenn aus ihrer Sicht der Antrag unvollständig ist und darf das Genehmigungsverfahren erst beginnen, wenn die Antragsunterlagen vollständig vorgelegt werden. In unserer Region dagegen können Bodenabbauunternehmen nach wie vor darauf bauen, dass auch offensichtlich unvollständige, fachlich mangelhafte und in sich widersprüchliche Anträge als Grundlage für das Verfahren akzeptiert werden. Es liegt auf der Hand, dass viele von ihnen keine Veranlassung sehen, an ihrer Praxis etwas zu ändern.
Dabei wäre die Position des Naturschutzes im Bodenabbau durch die landesweit gültigen Vorgaben relativ stark - wenn sie denn beachtet würden. Sofern das Unternehmen vermeiden will, dass es als „Wiedergutmachung“ für die Beeinträchtigungen von Natur und Landschaft zu kostspieligen Ersatzmaßnahmen außerhalb der Abbaufläche verpflichtet wird, muss nämlich laut „Arbeitshilfe“ und „Leitfaden“ die gesamte Abbaufläche nach dem Abbau entsprechend den Zielsetzungen des Naturschutzes entwickelt werden. Dies bedeutet bei Sand- und Kiesgruben, dass sich ihre Gestaltung „an den naturraumtypischen Formen der Umgebung orientieren“ soll. Wo dies vom Untergrund her möglich ist, etwa an grundwassernahen Standorten, „soll auf Teilen der Abbaufläche ein abwechslungsreiches Relief u.a. mit trockenen Flächen, feuchten Senken und naturnah gestalteten flachen Kleingewässern entstehen.“ Abbaugewässer „sollen sich hinsichtlich Größe, Tiefe, Gestaltung und Nährstoffgehalt an vergleichbaren natürlichen Gewässern im Naturraum orientieren“. Bei Sand- und Kiesgruben sind das in unserem Raum in den meisten Fällen flache Weiher, die vor allem durch eiszeitliche Winde ausgeblasen wurden, oder in den Flussauen langgestreckte, ebenfalls nicht sehr tiefe Altwasser. Bereits während des Abbaus, der sich ja meist über Jahrzehnte hinzieht, sollen für Pionierarten wie Kreuzkröte, Flussregenpfeifer und verschiedene Insektenarten wechselnde Teilbereiche festgesetzt werden, auf denen, wo es vom Standort möglich ist, ein Mosaik von offenen Sand- und Kiesflächen und vegetationsarmen Kleingewässern geschaffen bzw. erhalten wird. Diese Flächen sollen weder als Lager- oder Abstellfläche dienen noch regelmäßig befahren werden.
In der Region Hannover beantragte Bodenabbauvorhaben erfüllen im Normalfall keine einzige dieser Voraussetzungen. Trotzdem wird in der Regel auf Ersatzmaßnahmen verzichtet, weil die Gestaltung angeblich den Zielen des Naturschutzes entspricht - mit Segen der Zulassungsbehörde.
Auch da, wo die landesweiten Standards konkrete Maße vorgeben, ist die Situation nicht besser. Zum Beispiel beim jüngsten Verfahren, einem Sandabbau in der Wedemark. Nach dem „Leitfaden“ müsste der zukünftige Baggersee in diesem Fall rundum eine Flachwasserzone von 34 Meter, mindestens aber 17 Meter Breite bekommen. Der Antrag jedoch sah, bis auf einen kleinen Winkel, eine durchschnittlich nur 7,5 Meter breite Flachwasserzone aus nichtverwertbarem Abraum vor, der in diesem Fall ungewöhnlich reichlich anfiel. Die Forderung aus unserer Stellungnahme nach größeren Flachwasserzonen entsprechend den landesweiten Vorgaben lehnte die Region ab - wie auch unsere anderen Forderungen übrigens ohne ein Wort der Begründung.
Am Ende steht der Angelteich?
Ein trauriges Kapitel sind schließlich die Nutzungen, nachdem die Bagger verschwunden sind. Nach der „Arbeitshilfe“ kann auf Ersatzmaßnahmen nur verzichtet werden, wenn man die Abgrabungsfläche nach Ende des Abbaus der natürlichen Entwicklung überlässt und hier „keine das Naturschutz-Entwicklungsziel (...) beeinträchtigenden Freizeitaktivitäten“ stattfinden. In der Realität werden Baggerseen aber in den allermeisten Fällen als Angelgewässer genutzt. Die Folgen sind Zerstörungen der Ufer- und Unterwasservegetation, Störungen der Brut- und Rastvögel, Vertreibung und Verfolgung fischjagender Arten wie Kormoran oder Graureiher und künstlicher Fischbesatz in jährlichen Größenordnungen von Zentnern, manchmal von Tonnen, der vielen Amphibien und Libellen kaum eine Chance lässt. Zwar wird immer wieder behauptet, dass Fischerei nicht untersagt werden kann, weil für Gewässer eine „Hegepflicht“ besteht. „Hege“ im Sinne des Gesetzes bedeutet aber nicht fischereiliche Nutzung; außerdem darf die Region Fischerei aus Naturschutzgründen einschränken. Wenn sie dies nicht tut, wären zumindest Ersatzmaßnahmen außerhalb der Antragsfläche fällig. Die Regionsverwaltung hat diese Regelung aber bisher konsequent missachtet.
Wir möchten, dass der Umgang mit Bodenabbauvorhaben in der Region Hannover sich grundlegend ändert. Zwar gab es immerhin Einzelfälle, in denen Bodenabbau-Anträge, nicht zuletzt aufgrund unserer Hinweise, abgelehnt wurden. Es ist auch anzuerkennen, dass Wünsche, Abbaugruben zu verfüllen, von der Region sehr kritisch gesehen werden. Ansonsten werden jedoch Planungen, die die Naturschutz-Standards ignorieren, fast immer ohne nennenswerte Korrekturen akzeptiert. Naturschutz ist aber keine hübsche Dreingabe, die nicht eingefordert werden darf und nur mitgenommen wird, wenn man sie freiwillig gewährt. Er ist ein berechtigter Anspruch der Allgemeinheit gegenüber den Abbauunternehmen. Die BUND-Kreisgruppe wird sich verstärkt für ein Umdenken in diesem Bereich einsetzen.
Georg Wilhelm