Eindrücke von den Castor-Protesten 2010

Samstag, 6. November, am Stadtrand von Dannenberg. Aus der ursprünglich geplanten Demonstration durch die Stadt wurde eine Großkundgebung, weil die Straßen der Stadt die vielen Demonstranten nicht aufnehmen konnten. Wir suchen einen Freund, der mit den Bussen gekommen ist und bei uns wohnen will. Unser Plan, einfach per Handy einen Treffpunkt zu vereinbaren, erweist sich als saudumme Idee, weil das Mobilfunknetz bei den Menschenmassen über Stunden zusammengebrochen ist. Es ist die größte Versammlung gegen Atomkraft, die das Wendland je erlebt hat.

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„Ich war noch nie demonstrieren, aber jetzt musste ich einfach hin.“ Ein Satz, den ich so ähnlich mehrmals höre. Die Laufzeitverlängerung, dieses Hundert-Milliarden-Geschenk der Bundesregierung an die Atomkonzerne, und die Fälschungen, Lügen und Skandale um die Asse und den Salzstock Gorleben tragen sehr dazu bei, Menschen aufzurütteln.

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Seit Wochen und Monaten prophezeit das Innenministerium gewalttätige Proteste und versucht so, mögliche Teilnehmer einzuschüchtern und eigene Gewalt schon vorab zu rechtfertigen. Paradebeispiel für angebliche Gewalttaten ist das geplante „Schottern“. Eine Vielzahl von Einzelpersonen und Gruppen hatte offen dazu aufgerufen, auf der Bahnlinie in den Tagen, wo hier nur der Castorzug fährt, Schotter unter den Gleisen herauszunehmen, um den Atommülltransport aufzuhalten und hatte bewusst dafür auch Strafanzeigen in Kauf genommen. Die Aktionsform ist im Wendland, auch in Kreisen der Atomgegner, umstritten. Ich persönlich halte Schottern für eine schlechte Aktion. Form und Inhalt des Protestes müssen, finde ich, zusammenpassen. Das Schottern ist ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei, aber unser Protest ist kein Spiel. Festzuhalten ist aber auch, dass keine Menschen verletzt werden sollen, sondern zu Sachbeschädigung aufgerufen wird. Als im Vorfeld angeblich autonome Gruppen ankündigen, die Schotteraktionen mit Steineschmeißen, Feuerwerkskörpern und Pfefferspray zu „unterstützen“, verwahren sich die Sprecher der Schotterer öffentlich gegen diese „Hilfe“, die eigentlich eine Anmaßung ist. Trotzdem werden einige Steineschmeißer die Schotteraktion als cooles Umfeld missbrauchen und den Medien die gewünschten Gewaltbilder liefern.

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Menschen, die nicht mehr zu den Allerjüngsten gehören und sich den Namen „Graue Zellen“ gegeben haben, führen seit einem Monat an jedem Sonntagmittag eine symbolische Sitzblockade vor dem Castor-Verladekran durch. Weil man schon im „gesetzten“ Alter ist, werden Stühle mitgebracht und das Ganze nennt sich ironisch „Stuhlprobe“. Heute sind die Reihen lichter als an den Sonntagen davor. Im ganzen Wendland werden jetzt entschlossene Protestierer und helfende Hände gebraucht. Es gibt bereits Blockaden auf der Schiene und der Straße, es gibt Camps und Infopunkte für Atomkraftgegner, es gibt Veranstaltungen wie „Kultur gegen den Castor“ in der Kirche in Langendorf oder den „Musenpalast“ in Laase, beides an der Transportstrecke. Wenn nicht leider auch anderes zu tun wäre, könnte man sich in den Castortagen wunderbar nur an Konzerten, Kabarett oder Lesungen erfreuen und mit Kuchen, der von solidarischen Landfrauen gespendet wurde, einen Kugelbauch anfuttern.

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Obwohl überall an der Bahnstrecke Polizisten Spalier stehen, hat es die wendländische Initiative „Widersetzen“ geschafft, auf die Gleise zu kommen. Dafür braucht es sehr viel Mut, denn die Polizei geht gegen die ersten Blockierer, die nichts anderes wollen, als friedlich zu demonstrieren, mit Pfefferspray und Knüppeln vor. Am Nachmittag, als wir dazustoßen, ist die Situation wieder entspannt. Tausende von Menschen, Schätzungen sprechen von 6000, sitzen auf den Schienen, so etwas gab es noch nie!

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Die Polizisten aus Hannover, mit denen wir uns unterhalten, haben vor 24 Stunden das letzte Mal gegessen und sind seitdem ununterbrochen im Dienst. Einer sagt uns: „Am Anfang habe ich noch dran gedacht, was diese Castortransporte für ein Wahnsinn sind. Jetzt denke ich nur noch an Essen, Aufwärmen und Schlafen.“

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Gegen 22 Uhr wird bekannt, dass der Castortransport in der Nacht nicht mehr weiterfahren wird und nicht weit von hier, in Dahlenburg, provisorisch eingezäunt ist. Manche, darunter auch wir, versuchen darauf, sich durch Nacht, Kälte und fast unpassierbare Straßen zu einem warmen Plätzchen durchzuschlagen. Andere, nach Polizeiangaben 3500 Menschen, halten bei Minusgraden auf den Schienen aus. Die Polizei braucht sechseinhalb Stunden, um die Blockade abzuräumen, geht dabei teilweise sehr hart vor und kesselt alle, die nicht „freiwillig“ von den Schienen gegangen sind, über Stunden auf freiem Feld ein.

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Eine Aussage, die ich, trotz allem, noch nie so oft gehört habe: „Unser Gegner ist nicht die Polizei. Wir wehren uns hier gegen eine unverantwortliche Atompolitik.“

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Aus welcher alternativen Energiequelle speisen die Atomkraftgegner im Wendland eigentlich ihre Ausdauer? Über drei Jahrzehnte dauert der Kampf gegen die Atomanlagen und die Lüge eines sicheren Endlagers schon. Manche sind seitdem ununterbrochen dabei und gleichzeitig sind neue Generationen dazugekommen. Warum waren nicht alle nach ein paar Jahren nur noch verbittert und resigniert? Kreativität ist ein Teil der Antwort. Sie ist in diesen Tagen überall zu erleben, aber auch in anderen Zeiten des Jahres. Zwischen Himmelfahrt und Pfingsten etwa ist hier „Kulturelle Landpartie“. In über hundert Dörfern organisiert die Szene Ausstellungen und Veranstaltungen. Pfingstmontagabends geht es mir wohl so ähnlich, wie sich ein Rheinländer zu Aschermittwoch fühlen muss. Auf einmal ist wieder Alltag und ich kann nicht mehr einfach mit dem Rad von „Wunderpunkt“ zu „Wunderpunkt“ bummeln, unter alten Hofeichen Pause machen, in einem ehemaligen Schweinestall eine Skulpturenausstellung ansehen oder in einer Wassermühle ein Harfenkonzert anhören.

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Freunde, die an der Transportstrecke wohnen, berichten, dass sie seit Wochen vor ihrer eigenen Haustür Durchsuchungen und Ausweiskontrollen über sich ergehen lassen müssen. In der Nacht vor dem Straßentransport kommen vermummte Polizisten auf die Grundstücke und durchsuchen rabiat, ohne Begründung und ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss, Häuser und Höfe. Auch eine alte Frau, die allein in ihrem Haus wohnt, bleibt nicht verschont.

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Auf der Straße vorm Zwischenlager sitzen, stehen, liegen oder tanzen bei einer Blockade der Initiative „X-tausendmal quer“ etwa 5000 Menschen, die es am Ende bis zu 45 Stunden hier ausgehalten haben. Bewundernswert ist die Organisationsleistung der Anti-Atom-Aktivisten. Am Camp und Infopunkt in Gedelitz bekommen wir eine Karte, mit der wir durch den nächtlichen Wald finden. Kaum haben wir die Straße erreicht, werden wir von einem jungen Mann angesprochen, der uns einlädt, uns einer „Bezugsgruppe“ anzuschließen und uns die demokratischen Strukturen erklärt. Es gibt Sanitäter, die uns fragen, ob wir etwas brauchen, Kontaktleute zur Polizei, die man ansprechen kann und Betreuer, die Demonstranten psychologisch unterstützen, gerade auch später, nach der Räumung. Unübersehbar soll niemand, der Hilfe braucht, allein gelassen werden. Es gibt Strohsäcke, Decken, Essen und Trinken an mehreren Versorgungsständen, darunter sogar einer aus Brettern zusammengezimmerten Pizzeria, und von allem große Mengen, durchweg gespendet oder aus Spenden bezahlt. Erst nach Mitternacht wird die Versorgung für die immer noch wachsende Menschenmenge teilweise knapp.

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Mit einem umgebauten Bierlaster (Werbeaufschrift: „Erfrischend anders“) versperren Aktivisten von Greenpeace in einer genialen Aktion elf Stunden lang die Transportstrecke nahe beim Verladekran. Bei der Straßenblockade vorm Zwischenlager sorgt diese Nachricht für beste Stimmung. Solche Coups sind wichtig, geben psychologisch Rückenwind. Trotzdem, das Bemerkenswerteste an diesen Tagen sind für mich nicht einzelne „Helden“, sondern die unglaublich vielen Menschen, die sich trotz Einschüchterungsversuchen und Diffamierungen einmal mehr oder auch das allererste Mal dem Atomwahnsinn entschlossen in den Weg stellen.

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„Ihr werdet Euch noch wünschen, dass wir politikmüde sind.“ Ein Satz aus unseren Reihen, der mir gut gefällt.

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Die Polizei lässt mit wiederholten Räumungsaufforderungen und Ultimaten keinen Zweifel daran, dass die Blockade verboten ist. Trotzdem verlässt bis zum Beginn der Räumung gegen 2 Uhr morgens kaum jemand die Straße. Lautsprecherdurchsagen von beiden Seiten machen aber auch deutlich, dass alle Beteiligten Gewaltszenen vermeiden wollen. Es dauert sechs Stunden, bis die letzten Blockierer von der Straße geholt sind.

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Am Abend, bei der Rückfahrt nach Hannover, liegt im Zug das Blatt mit den sehr großen Buchstaben. Wir lesen, dass wir Atomkraftgegner im Wendland einen „Bürgerkrieg“ entfesselt haben und vor keinen Gewalttaten zurückschrecken. Wir müssen in einem anderen Land als diese „Journalisten“ gewesen sein und haben an vier Tagen nur friedliche, aber entschlossene und mutige Proteste gesehen. 

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Am selben Tag ordnet die Bundesregierung, trotz Klage der Kirchengemeinde und der anderen Grundeigentümer, die sofortige Vollziehung der sogenannten Erkundung in Gorleben an - tatsächlich der Schwarzbau eines Endlagers in einem völlig ungeeigneten Salzstock. Unsere optimistische Stimmung leidet darunter kein bisschen. Sie haben den Bogen endgültig überspannt und sie kommen damit nicht durch, das ist unser Gefühl.

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Georg Wilhelm



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